Mitsprache und Mitbestimmung: In Deutschland gibt es immer mehr Bürgerräte
NRW, Bayern und Baden-Württemberg mit den meisten Verfahren
„Nirgends auf der Welt gibt es mehr losbasierte Bürgerräte als bei uns in Deutschland“, sagt Projektleiter Prof. Dr. Detlef Sack von der Uni Wuppertal. Die neue Datenbank Bürgerräte umfasst rund 300 Verfahren seit 1972, als man solche Verfahren noch Planungszelle nannte. Was die Zahl der losbasierten Bürgerräte betrifft, habe es in den Zwanziger-Jahren einen enormen Anstieg gegeben: Fanden in den 2010er-Jahren durchschnittlich jährlich sechs Bürgerräte in Deutschland statt, waren es in den Jahren 2020 bis 2023 fast 30 pro Jahr. „80 Prozent davon finden auf kommunaler Ebene statt“, so Sack. Am häufigsten kommen sie in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg zum Einsatz und behandeln Themen wie Stadtplanung, Infrastruktur, Nachhaltigkeit, Soziales, Umwelt und Bau. Aber auch Bürgerbeteiligung, Klima und Verkehr sind besonders häufig Gegenstand.
Auf Bundesebene gab es bisher einen vom Bundestag eingesetzten Bürgerrat („Ernährung im Wandel“), dessen Beratungsphase Ende Januar endete. Die Begleitforschung liegt beim IDPF – bis Anfang 2025 wird die Phase der parlamentarischen Anbindung noch evaluiert. Die Wissenschaftler*innen schauen also, ob und wie die Ergebnisse politisch umgesetzt werden. Daneben gab es neun von Bundesministerien oder zivilgesellschaftlichen Akteur*innen organisierte bundesweite Bürgerräte und knapp 20 Verfahren auf Landesebene.
Daten stehen für verschiedene Zwecke zur Verfügung
Ziel des Datenbank-Teams ist es, wöchentlich neue Bürgerräte sowie zurückliegende, bislang unbekannte Verfahren in die neue Datenbank mit aufzunehmen. Interessierte haben so Zugriff auf aktuelle Daten und können sich eine Übersicht verschaffen, wann und wo Bürgerräte zu welchen Themen unter welchen besonderen Bedingungen (etwa Personenanzahl, Auswahlkriterien) stattgefunden haben, bzw. wo es laufende Verfahren gibt und wo weitere Verfahren geplant sind. Eine aktuelle Auswertung präsentieren die Kooperationspartner im ersten Datenbericht „Bürgerräte in Deutschland“.
Verfahren der losbasierten Bürgerbeteiligung wurden bisher nicht zentral und einheitlich erfasst und dokumentiert. Mit der neuen Datenbank Bürgerräte erweitert das IDPF seine bestehende Datenbanken-Infrastruktur. Bereits seit den 2000er Jahren werden mit der Datenbank Bürgerbegehren direkt-demokratische Verfahren in Deutschland vom IDPF in Kooperation mit dem Fachverband Mehr Demokratie systematisch erfasst. Die Datenbanken bieten eine valide Ausgangsposition für wissenschaftliche Analysen, die nicht nur der Forschung an der Bergische Universität Wuppertal zur Verfügung steht: Als Open Access-Datenbanken mit Citizen-Science-Schnittstelle können auch zivilgesellschaftliche Praxis, Politik, Verwaltung und Medien sie nutzen. So z. B. jüngst von der Redaktion Zeit Online, die anhand der Daten der Uni Wuppertal über die Wirkung von Bürgerbegehren berichtete.
Was sind Bürgerräte?
Unter dem Begriff Bürgerrat fasst die Datenbank losbasierte Bürgerbeteiligungsverfahren mit unterschiedlichen Namen zusammen. Mal heißen sie Bürgerrat, mal Bürgerforum, mal Planungszelle, mal Bürgerdialog, mal Zukunftsdialog. Doch stets haben sie vier Gemeinsamkeiten: Die teilnehmenden Bürger*innen werden erstens nach dem Zufallsprinzip ausgelost. Sie verhandeln zweitens ein politisches Thema. Die Beratung findet in Form von Gruppendiskussionen statt. Viertens legen die beteiligten Bürger*innen inhaltliche Ergebnisse vor, in der Regel Empfehlungen, oft in Form eines Bürgergutachtens. So erarbeite zum Beispiel der erste Bürgerrat des Deutschen Bundestags „Ernährung im Wandel“ neun Handlungsempfehlungen, darunter die Einführung eines kostenlosen Schulessens. Das Bürgergutachten umfasste rund 50 Seiten.
Vor allem ab 2018 zeichnet sich beim Auswahlverfahren der Teilnehmenden erkennbar ein Trend zur Stratifizierung ab. Mit einem Anteil von rund 76 Prozent dominiert dieses Verfahren, das die einfache Zufallsauswahl mit einer gezielten Rekrutierung der Teilnehmenden nach bestimmten Merkmalen (etwa Altersgruppen oder Wohnort) kombiniert. Gute Praxis ist es, die Teilnehmenden in Orientierung an der tatsächlichen Verteilung in der Gesamtbevölkerung quotiert nach Geschlecht, Altersgruppen, Wohnort, Migrationshintergrund und Bildungsstand auszuwählen. Laut Expert*innen garantiere dieses Vorgehen eine möglichst hohe Diversität der teilnehmenden Bürger*innen und schwäche unerwünschte Verzerrungen ab, die durch die Freiwilligkeit der Einladung zur Teilnahme entstehen könnten.